Sandra West & Tobias Milton

Donnerstag, der 02. Februar 2017 | 17 Uhr
Sandra West & Tobias Milton

Vor etwa einer Viertelstunde hatte ich den Klassenraum betreten und war prompt wieder dabei die Unordentlichkeit zu richten, die meine Schüler verursacht hatten. Nun stand ich vor einem großen Schrank, der sich in der Ecke neben der Tür befand und alle möglichen Gegenstände beherbergte, die eine Schule mehr oder weniger benötigte. Wer auch immer vor mir die Brettspiele ab 6+ hier deponiert hatte, hatte offenbar keine Ahnung von Schülern in dem Alter oder wollte einfach nur seinen Kram loswerden. Seufzend versuchte ich alles ein wenig zusammenzuschieben, um einen Stapel Atlanten noch irgendwie in eine Ecke zu verfrachten. In mühevoller Kleinstarbeit funktionierte das schließlich auch, worauf ich die Türen gleich wieder verschloss. Das Innenleben darin weiter auseinanderzunehmen war keine Aufgabe für jetzt, das würde ich später in Angriff nehmen, wenn ich mehr Zeit hatte und nicht gerade nur auf eine Schülerin wartete, die es herausgefordert hatte einige Zusatzstunden an ihren normalen Schultag zu hängen. Kurz ging ich noch durch die Reihen, schob die Doppeltische wieder gerade aneinander und war mir nur allzu bewusst, dass das letztendlich vergebliche Mühe war. Ein paar Mappen lagen an meinem Pult, an welches ich mich nun auch setzte, während ich einen Blick auf die Uhr warf.

Nachdem ich festgestellt hatte, dass die volle Stunde verstrichen war, hatte ich mir eine Mappe vorgelegt, in der ich verschiedene Hausaufgaben der Schüler verwahrt und mir anderes vermerkt hatte. Als ich längst mit der Bearbeitung dieser begonnen und einiges korrigiert hatte, ging plötzlich die Tür auf, es folgte ein lautes Knallen. Ich zuckte kurz zusammen und erhob den Blick von meinen Unterlagen. Das Bild teilte mir deutlich mit, dass Sandra West ihren Rucksack auf den Tisch - oder viel mehr auf den Boden geworfen hatte. Erneut huschte mein Blick zur Uhr, wobei ich im Bruchteil einer Sekunde feststellte, dass die Schülerin 10 Minuten zu spät war, um mich dann auch noch provokant und in frechsten Tönen anzusprechen. Nun gut, die 10 Minuten waren eine Lappalie wenn man von ihr aus ging. Da war ich ganz anderes gewohnt, was mich bedeutend mehr ärgerte. Geflissentlich ignorierte ich ihren ersten Satz. Als sie weitersprach, blickte ich sie schließlich mit leicht hochgezogenen Brauen an. "Auch wenn Sie ja immer wieder bemüht sind allen zu zeigen, was sie von Bildung halten, würde es mich durchaus mal interessieren, was sie überhaupt in der Zukunft vorhaben? Mir ist bewusst, dass sie diese Leier vermutlich schon etliche Male von ebenso vielen Leuten gehört haben, aber vielleicht haben Sie dazu ja eine Antwort übrig, wenn ich gar nicht erst versuche, Sie zu bekehren? Abgesehen davon, kann auch ich mir deutlich angenehmeres vorstellen, als meine Zeit mit Schülern zu verbringen, die "Du" nicht von "Sie" unterscheiden können und bei jeder entfernt möglichen Gelegenheit Fäkalwörter verwenden. Das können Sie sich vielleicht vorstellen."

Wie ich von Anfang an erwartet hatte, erhielt ich keine wirkliche Antwort auf meine Worte, stattdessen keifte die Jüngere mich an, was mich das überhaupt angehe und das es ziemlich egal sei, weil sie diesen "Scheiß" schließlich noch nicht beendet hatte. Was mich wirklich an dem Beruf des Lehrers störte, war es, dass man sich auch mit Leuten abgeben musste, die nicht einmal freiwillig hier waren, geschweige denn freiwillig mitmachten. Sondern sich eben mit Händen und Füßen gegen alles und jeden wehrten. Das Problem hatte ich früher nicht... Zu allem Überfluss holte Sandra West nun auch noch Tabak aus der Tasche, drehte sich eine Zigarette und ich wartete nur darauf, dass sie diese auch noch entzündete. Offenbar war sie aber wenigstens so klug, letzteres nicht zu tun. "Mein Privatleben geht Sie als letztes etwas an." Die 15-Jährige war offenbar penibel darauf bedacht, auch ja keinen einzigen Blick mehr in meine Richtung zu werfen. Stattdessen fragte Sie, wie lange sie hier bleiben musste und begann mit der nächsten Zigarette. "Ich denke eine Stunde ist nicht zu viel verlangt. Wobei wir eine Stunde und 10 Minuten daraus machen, die Sie vorhin verstreichen ließen." Als mein Blick erneut auf den Tabak fiel, fügte ich noch hinzu: "Wobei sie die Zeit nicht damit nutzen werden, Zigaretten zu drehen." Warum sollte ich dem Mädchen noch erklären, welchen gesundheitlichen Schaden Rauchen hinterließ? Es würde letztendlich doch ohnehin nichts bringen.

Zwar stellte das Mädchen klar, dass sie nur 60 Minuten bleiben würde, andererseits legte sie endlich auch den Tabak wieder weg, was mich gleichermaßen verwunderte und erfreute, ohne dass ich mich weiter dazu äußerte. Ich schob den Stapel an Mappen auseinander, der noch immer auf dem Pult lag und holte 3 Arbeitsblätter hervor. Sie waren an einer allgemeinen Vergleichsarbeit orientiert und beinhalteten Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsstufen aus mehreren Fächern. Genervt nahm ich das stetige Klicken des Kugelschreibers war, musste allerdings fast leicht Schmunzeln, als die 15-Jährige meinte, dass Ganze sei mehr Strafe für mich, als für sie. "Da haben sie vielleicht sogar Recht." Antwortete ich wahrheitsgemäß, stand auf und legte ihr die Blätter auf den Tisch. "Ich denke, das reicht fürs Erste. Sollten Sie vor Stundenende fertig werden," ich überlegte kurz, ob es sinnvoller war, ihr dann Weiteres aufzugeben, "dürfen Sie meinetwegen auch früher gehen." Etwas anderes würde doch nichts bringen... "So oder so geben Sie die Zettel hinterher bitte ab. Ich nehme sowieso nicht an, dass Sie die sonst noch irgendwie gebrauchen können." Außer, um weitere Zigaretten zu drehen, aber das sagte ich selbstverständlich nicht.

"Jedenfalls würde es Ihnen viel Zeit ersparen, alle drei gleich zu machen." Antworte ich und wundere mich tatsächlich etwas darüber, dass die Schülerin sich tatsächlich an die Arbeit macht. Auch ich beginne meine Aufgaben weiterzumachen und nehme dabei immer wieder aus dem Augenwinkel wahr, dass Sandra West tatsächlich ihre Aufgaben, eine nach der anderen, bearbeitet. Nach der Aufmüpfigkeit, die die Schülerin zunächst und eigentlich immer an den Tag legte, wunderte mich dies schon fast. Andererseits war es angenehm, dass sie endlich Ruhe gab. Nachdem einige Zeit vergangen war, setzte ich zu einer vorsichtigen Frage an: "Sollten Sie irgendwelche Fragen haben...?"

Die Schülerin hatte selbstverständlich keine Fragen, alles andere hätte mich offen gesagt verwundert. Andererseits bearbeitete sie die Aufgaben nacheinander ohne großartig zu Murren, was ich schonmal als kleinen Erfolg ansah - wenn man es denn so bezeichnen konnte. Als nächstes erklärte sie von Neuem, dass das Nachsitzen letztendlich nichts bringen würde, da Strafen bei Leuten wie ihr eher zum Gegenteil, also noch schlechterem Benehmen führen würden. "Dass Sie das verstanden haben, ist doch schon ein guter Schritt zur Besserung", antwortete ich, meinte es aber auch nicht ganz ernst. Immerhin legte sie mir die ausgefüllten Arbeitsblätter auf den Tisch und behauptete, meine Generation wüsste ohnehin immer alles besser. "Das Gleiche könnte ich von Ihnen behaupten, sonst würden Sie mich wohl kaum mit solchen Sprüchen belehren." In anbetracht dessen, dass sie ihre Zigarette in der Hand hatte, fügte ich noch hinzu: "Und wenn Sie sich die Lungen schon kaputt machen wollen, machen Sie das bitte erst draußen, sonst muss ich das Zeug konfiszieren. Sie kennen die Schulordnung."

Ich zuckte leicht mit den Schultern, als Sandra West fragte, ob ich wirklich glaube, sie würde sich wegen ein paar Arbeitsblättern bessern. "An irgendetwas muss man ja glauben", erwiderte ich trocken, wobei mir erneut auffiel, dass meine Schlagfertigkeit minimalst besser geworden war, seit ich als Lehrer arbeitete. Die Schüler forderten in der Hinsicht einiges... Oder zumindest taten es solche wie die die Elftklässlerin, die vor mir stand.
"Das sehe ich." Ich hatte offen gesagt keine Lust, dass mir die Schüler auf der Nase rumtanzten. Andererseits war ich mittlerweile manchmal unsicher, ob es überhaupt möglich war, dies gänzlich zu vermeiden. Jeder Lehrer entwickelte seine eigenen Strategien, die allesamt Vor- und Nachteile hatten. Eine optimale Formel gab es nicht. Leider.