Zahlen waren nicht wirklich seine Stärke. Nicht im Ansatz um ehrlich zu sein. Genauso wie der Satz ›als Gott die Ortskenntnis verteilte hatte er sich gerade verlaufen‹ nur allzu perfekt auf den Jungen zugeschnitten schien, dessen Name für andere ebenso kompliziert auszusprechen wie für ihn zu schreiben war, weshalb jeder – einschließlich ihm selbst – den schlichten Familiennamen Ariel bevorzugten. Ariel wie die Meerjungfrau, nicht wie der Geist aus Shakespears Stück ›The Tempest‹, was die Mitschüler des androgynen Außenseiters noch immer sichtbar belustigte, wenn er nach dem Fehler eines Lehrers darauf hinwies, dass nicht das E sondern das L betont wurde. Der unwissende Beobachter hätte wahrscheinlich nicht geglaubt, dass der junge Mann, dessen Style sich am ehesten als Goth-Punk beschreiben ließ, Probleme mit Mobbing haben könnte. Okay früher vielleicht, als er grade damit begonnen hatte Make up zu tragen, aber nicht jetzt, wo er genug Metall am Körper trug um einen Zombieangriff abzuwehren. Doch eben dies war der Fall, aus dem einfachen Grund dass Szczepan nie gelernt hatte, sich effektiv zu wehren, und diese Tatsache resultierte wiederherum daraus, dass es keinen Sinn darin sah. Man hatte ihm gesagt, die Angriffe würden schon aufhören, wenn sie alle älter würden und er sich nichts anmerken ließe – und tatsächlich schlug er sich diesbezüglich ganz gut – aber es fanden sich doch immer neue Schwachpunkte, und die Täter hatten aufgrund des Mangels an Reaktionen nie gelernt, wo ihre Grenzen lagen. Ein Thema, welches sie dazu noch immer weiter vorantrieb war die ADS-Diagnose des Dunkelhaarigen, die dieser im Alter von fünfzehn Jahren – ziemlich verspätet – erhalten hatte, und die publik wurde nachdem er eine Mappe, gefüllt mit zahlreichen Psychotests, die er für die Therapie auszufüllen hatte, in einem Klassenzimmer vergessen hatte, nur um die Blätter wenig später im ganzen Schulhaus verteilt zu finden, aufs übelste zerschandelt und zerrissen. Ihm persönlich machte es nichts aus, ob andere von ihm diesen oder jenen Dachschaden kannte, sonderlich viele waren es nicht, und erst recht keine besonderen, und wer meinte sich deshalb mit ihm anlegen zu müssen, der hatte eindeutig noch nicht verstanden, dass er nicht darauf anspringen würde.
Doch zurück zu dem leidigen Zahlenthema, welches ihm derweil um einiges mehr beschäftigte als irgendwelche tiefgründigen Psychologie-Themen. Fakt war, dass er den Gang von der falschen Seite betreten hatte, und jetzt wo er sich auf die letzten 3% seines Handyakkus konzentrierte, welche Dank Psyclon Nine nun vollständig draufgingen, hatte er gleich auch wieder besseres zu tun, als sich noch einmal zu vergewissern, ob er auch wirklich an der richtigen Tür war, und trat ein. Die Zimmer des Internats waren weitgehend gleich gestaltet, und da sein Bett frei war, ging er davon aus, dass es sich tatsächlich um seines handelte, zumindest in der ersten Sekunde. Und diese reichte aus, sich auf eben dieses zu fläzen und liegen zu bleiben, bis der Akku zwischen »the muted screams of the dying« und »pierced my soul like a dull and rusted needle« kapitulierte und er sich bewusst wurde, dass das nun doch nicht sein Zimmer war. Allein schon deshalb, weil das Bett gemacht war – eine Kleinigkeit mit der er sich am Morgen nie aufhielt. Auf der Suche nach einer Erklärung sah er sich nun um und wurde sich dazu noch bewusst, dass er nicht nur die indirekte, sondern auch die direkte Privatsphäre der tatsächlichen Bewohner – beziehungsweise einem von ihnen – verletzt hatte. Wobei er aber nicht glaubte, dass dieser ihm sofort seine Katze entgegen schleudern würde. Allerdings sah seine gute britische Erziehung es doch vor, sich aufzusetzen und den Fremden mit dem tiefroten Haar anzusehen. »Hey.«, begrüßte er den anderen und streckte ihm die bleiche Hand entgegen, deren Nägel – wie sollte es anders sein – mattschwarz lackiert waren, und an deren Ringfinger zusätzlich ein Ring in Form eines Vogelschädels schimmerte. »Ich bin Szczepan Ariel.«, auch wenn er wusste, dass es wirklich vollkommen sinnlos war, verlangte es die Etikette doch, dass er sich vorstellte. Nun würde er dasitzen, sich die ein oder zwei Aussprachefehler, beziehungsweise die hochgezogene Augenbrauche reaktionslos hinnehmen und dann zustimmen dass es doch leichter wäre, beim Nachnamen zu bleiben.